Thema: Kreatin
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Alt 11.08.2000, 23:10
Tiberius Mohr, Tierarzt
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Standard RE: Und was ist von Carnitin zu halten?

Mit L-Carnitin verhält es sich etwas anders als mit Kreatin. Der Stellenwert einer richtigen L-Carnitinversorgung im Brieftaubensport ist sehr hoch. Zum besseren Verständnis nun einige Einzelheiten.

Vom Chemiker zum Taubenzüchter
L-Carnitin (Vitamin BT, Vitamin T, Torutilin, Termitin) ist aus der Sicht des Chemikers eine wasserlösliche, ethanollösliche, quartäre Ammoniumverbindung, die nicht in Aceton, Diethylether und Benzol aufgelöst werden kann.
Aus der Sicht des Physikers ist L-Carnitin ein weißes, sehr wasseranziehendes, kristallines Pulver.
Der Züchter sieht die Sache etwas bequemer: aus seiner Sicht ist L-Carnitin das weiße „Leistungspulver“ mit dem eigentümlichen Geruch und süßlichen Geschmack — oder einfach nur einer der unaussprechlichen Besttandteile seines Wirkstoffpräparates (so einfach kann das Leben sein...).
Für den Biochemiker und Arzt, für den die Wirkung im Körper im Vordergrund steht, gehört L-Carnitin zur Gruppe der sogenannten VITAMINOIDEN (also der Stoffe mit vitaminähnlicher Wirkung).

Geschichtliches
Zum ersten mal wurde L-Carnitin im Jahre 1905 (von Gulewitsch und Krimberg) aus einem Fleischextrakt isoliert, daher auch der Name (lat. carnis = Fleisch). 1935 wurde die chemische Verwandtschaft zu Cholin (in Lecithin) entdeckt. 1958 fand man heraus, daß L-Carnitin die Fettverbrennung steigert. 1980 feierten italienische Ausdauersportler große Erfolge nach der Einnahme von L-Carnitin, 1982 wurde Italien überlegen Fußballweltmeister — auch hier war nachweislich L-Carnitin „im Spiel“. 1986 gelang die biotechnische Herstellung von L-Carnitin (leider nur in Verbindung mit D-Carnitin).

Vorkommen
L-Carnitin ist ein natürlicher Bestandteil der Herz- und Skelettmuskulatur. In Pflanzen und Pflanzenprodukten (= Taubenfutter) kommt L-Carnitin in nur unbedeutenden Mengen vor, die den Bedarf eines Körnerfressers (= Taube) nicht decken können — schon gar nicht, wenn hohe Leistung erbracht werden soll.
Nun werden sich jetzt einige Leser Fragen, wie das die freilebenden Tauben regeln, denn einen Zugang zu hochwertigen Roborantia kann man der Felsentaube beim besten Willen nicht unterstellen. Um die Frage zu beantworten muß man den Lebens- und jahreszeitlichen Rhythmus freilebender Tauben betrachten. Hier einige Tatsachen:
1) die Felsentaube beitreibt von sich aus weder große Wanderungen (kein Zugvogel!) noch Taubensport
2) Felsentauben nehmen in Zeiten hoher Beanspruchung des Stoffwechsels (Jungenaufzucht, Wachstum) regelmäßig tierische Nahrung auf (Schnecken, Raupen, Muscheln, Krebse — je nach den örtlichen Gegebenheiten)
3) in Gefangenschaft gehaltene Felsentauben können ihre Jungen ohne Zusatzprodukte oder tierische Nahrung nur mühsam aufziehen

Im Körper der Taube wird L-Carnitin in Leber und Nieren aus den Aminosäuren L-Lysin und L-Methionin gebildet. Nur ca. 10% des Bedarfs an L-Carnitin kann jedoch vom Körper selbst hergestellt werden, der Rest muß über die Nahrung aufgenommen werden. Somit ist L-Carnitin ein semiessentieller Stoff — das bedeutet so viel wie „nicht ganz essentiell, aber irgendwie doch".
An der Synthese sind die Vitamine B6, C und Niacin sowie Eisen beteiligt. Und genau hier liegt der Schwachpunkt in der Bildungskette während der Wettflugsaison: beim Eisen. Die Eisenversorgung in der Reisezeit ist ohnehin kaum gewährleistet, denn oral aufgenommen (Futter, Eisenpräparate über das Trinkwasser) ist Eisen für den Körper schlecht verfügbar (siehe dazu „Medizinische Versorgung im Brieftaubensport“ Seite 115-116). Ab dem 4. bis 5. Wettflug — je nach Witterung bzw. Anstrengung — reichen die Eisenspeicher in der Milz gerade für die Bildung von roten Blutkörperchen (wenn das nicht so wäre, hätte EPO keinen so überwältigenden Einfluß auf die Leistung — siehe dazu meinen ersten Beitrag im neuen Forum). Einer Studie der Universität Gießen zur Folge leiden ALLE Reisetauben ab Mitte der Saison an einem zumindest unterschwelligen Eisenmangel. Unter diesen Bedingungen ist auch die L-Carnitinversorgung aus körpereigener Produktion nicht sichergestellt (zumal bei hoher Beanspruchung der Muskulatur und des Herzens ohnehin lediglich 10% des Bedarfs über die körpereigene Produktion gedeckt werden kann...).

Eigenschaften
L-Carnitin bewirkt über einen speziellen Mechanismus das Einschleusen langkettiger, aktivierter Fettsäuren in die Mitochondrien (= "Kraftwerke" der Zellen). Fettsäuren sind von Natur aus relativ reaktionsträge und lassen sich nicht gerne freiwillig im Muskel verbrennen. Führt man sie aber mit Hilfe von L-Carnitin in Thioester-Form über, so wird ihre Reaktionsfähigkeit beträchtlich erhöht, sie werden „gefügiger“. Es entsteht sozusagen die Transportform der Fettsäuren, welches — im Gegensatz zu den langkettigen Fettsäuren selbst — die innere Membran der Mitochondrien „freiwillig“ (durch Diffusion) passieren kann. Langkettige aktivierte Fettsäuren werden in den Mitochondrien der Muskelzellen (in den "Kraftwerken" also) zur Energiegewinnung gebraucht. Man spricht von Oxidation oder umgangssprachlich von Fettsäureverbrennung. Demzufolge ist bei einem Mangel von L-Carnitin dieser Vorgang, — einer der bedeutendsten Energiequellen des Organismus — stark beeinträchtigt. Insbesondere das Herz bezieht seine Energie aus der Oxidation von langkettigen Fettsäuren. Ohne ausreichend L-Carnitin kann das Herz nicht die während des Wettflugs erforderliche Leistung in vollem Umfang erbringen und die Tauben fliegen „aus unerklärlichen Gründen“ nicht die erhofften Preise.

Da L-Carnitin in pflanzlicher Nahrung — also auch im Taubenfutter — lediglich in Spuren vorhanden ist, reicht in Zeiten hoher Belastung (= Wettflug) die täglich aufgenommene Menge nicht aus. Bei starker körperlicher Beanspruchung leiden das Herz, die Nieren und die Muskulatur. Aus diesem Grund haben wir in unserem Präparat Roborans BT-1 die L-Carnitinmenge dem tatsächlichen Wettflugbedarf angepaßt und durch L-Carnitinkatalysatoren (Vitamine B6, C und Niacin) dafür gesorgt, daß auch im Körper genügend L-Carnitin gebildet werden kann, wenn der Flug länger dauert und die Kapazität der L-Carnitinspeicher erschöpft sind (dafür bieten wir das Präparat Roborans BT-2 an, für die Langstreckenflüge). Die Eisenversorgung ist in unserem Programm durch die Verabreichung von Ferridextran III (als Injektion in den Muskel am Anfang der Saison) gewährleistet.

Vorsicht ist bei Präparaten geboten, die als Inhaltsangabe lediglich „Carnitin“ und nicht „L-Carnitin“ aufführen, denn es könnte sich dabei um „„D-Carnitin“ handeln — den „billigen Bruder“ des L-Carnitin. D-Carnitin ist sehr günstig in der Herstellung (eigentlich ein Abfallprodukt) und hat im Körper keinerlei biologische Bedeutung, denn in der Natur kommt D-Carnitin nicht vor, es ist ein unerwünschtes Nebenprodukt der L-Carnitinherstellung. In höheren Mengen oder regelmäßig aufgenommen ist D-Carnitin giftig.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Spitzenleistungen im Brieftaubensport, so wie sie heute erwartet werden, ohne eine ausreichende und strategisch gut durchdachte Versorgung mit L-Carnitin und L-Carnitinkatalysatoren nicht möglich sind.

Abschließend soll noch vor billigen Wirkstoffprodukten mit L-Carnitin-Zusatz gewarnt werden. L-Carnitin ist sehr teuer, der Bedarf während der Reise sehr hoch. In einem günstigen Präparat können nicht ausreichende Mengen L-Carnitin enthalten sein, es sei denn, der Hersteller möchte absichtlich in Konkurs gehen. Das ist jedoch sehr selten der Fall. Folglich dienen (meist fettgedruckte) Angaben über L-Carnitin lediglich zum Anlocken halbinformierter Züchter, die schon mal gehört haben, daß L-Carnitin „irgendwie“ gut sei. Um die Menge beim flüchtigen Lesen im Verhältnis zu den übrigen Bestandteilen größer erscheinen zu lassen, geben einige Hersteller die L-Carnitin-Menge in Mikrogramm an, während die übrigen Bestandteile in Milligramm angegeben werden. Rechtlich ist das erlaubt (leider!) — man muß also genau hinsehen.

Tiberius Mohr
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